Sterblichkeit und Fassade
für Ästhetik und
Kulturvermittlung
Wolfram Odins Arbeit zum
decorum der Berliner Stadt.
Todesanzeigen dienen soweit dem Gedanken
an die Toten, soweit sie der Selbstvergewisserung der Lebenden dienen.
Soweit es also gelingt, in einer Todesanzeige das Bild des Toten zu vermitteln,
soweit blicken wir auch fahl vermittelt in unser eigenes Spiegelbild. Daß
dennoch ein Reiz darin liegt, am Morgen die Tageszeitung zuerst auf die
aktuellen Todesanzeigen hin durchzulesen, ist wohl darauf zurückzuführen,
daß es ein Bedürfnis danach gibt, den Tod im Bild zu trainieren.
So, wie man im Geiste schon hundertmal die Antworten durchgegangen ist,
die man auf den Frankfurter Fragebogen geäußert hätte,
wenn man denn gefragt worden wäre und wie man nach einer Preisverleihung
geredet hätte, so hat auch der verantwortungsbewußte Zeitgenosse
wohl schon seine eigene Todesanzeige entworfen. Todesanzeigen und
Nachrufe sind zu wichtig, um ihre Niederschrift anderen Leuten zu überlassen.
Das Leben verwirklicht und verdichtet sich besonders in den Übungsstunden
für das große Vorbei. Man kommt eben erst in der
Konfrontation mit grinsenden Totenschädeln auf die Frage, ob man selber
ist und inwieweit das sinnvoll ist. Der Blick in die Todesanzeigen der
Morgenzeitung führt zu dem Appell, ein Fazit zu ziehen. Es gibt Menschen,
bei denen diese Form des Appells nicht fruchtet. Ein schlechter Satz der
Philosophie ist Wittgensteins Bemerkung, daß man den Tod nicht erlebe,
weil er eben kein Ereignis des Lebens sei. Wenn man auch nicht den eigenen
Tod erlebt, so erlebt man doch den Tod jener, die stellvertretend für
uns gestorben sind und wenn die Stellvertretung auch nur aufgedrängt
ist.
Wir kennen Todesanzeigen nicht nur als
Reklame für den Tod, wie in den Anzeigen und Mahnmalen gefallener
Soldaten und dem damit verbundenen Hinweis, es sei süß und ehrenhaft,
fürs Vaterland zu sterben. Wir kennen Todesanzeigen auch als Reklame
mit dem Tod, wie in jener haarkräuselnden Todesanzeige für Thomas
Lehnerer, die den Hinweis auf den Tod des Künstlers mit dem auf die
treue Galerie verband. Solche Beispiele sollen uns aber nicht davon abhalten,
in den Todesanzeigen einen Brennspiegel des eigenen Lebens zu sehen. Seit
einiger Zeit fordert uns der Berliner Künstler Wolfram Odin und seine
Art Ambulanz dazu auf, die eigene Todesanzeigen zu schreiben und ihm nur
noch die spätere Veröffentlichung zu überlassen. In der
Odinschen Sammlung finden sich nun schon eine ganze Reihe von Todesmeldungen
Lebender, die die Funktion einer poetischen Verdichtung des Lebenslaufs
erfüllen. Weil eine vorzeitige Veröffentlichung wohl zu makaberen
Mißverständnissen führen würde, die die Freude über
das Weiterleben der Autoren verdecken könnten, sind die Anzeigen aber
im Moment dazu verdammt, nur im privaten Kreis der Teilnehmer zu kursieren.
Die Frage, welche Form von Stellvertretung eigentlich vorliegt, wenn andere
vor uns sterben, läßt sich aber ihrem eigentlichen Sinn nach
erst im öffentlichen Raum stellen. Erst in der veröffentlichten
Aufforderung, Anteil am Tod zu nehmen, läßt sich die weite Typologie
der Stellvertretung von Kameraden, Verwandten, Freunden, Glaubensgenossen
bis hin zu Idolen entfalten. Hierzu präsentiert in diesem Sommer Odin
in der Auguststraße in Berlin ein Fassadenprojekt mit dem Titel „jenseits“.
Als Blendfassade hat er vor das Gebäude der Galerie Deschler eine
Reihe von vergrößerten Todesanzeigen gespannt. Die aufgeführten
Personen, von Heiner Müller über Hans Lehmann zu Hans Schubert,
kennen wir aus jener Typologie der Stellvertretung. Gedruckt auf das Ornament
industrieller Tapetenware und verknotet an der Fassade eines Berliner Hauses
der Gründerzeit bietet Odin eine fliegende Lokalisation für den
Ort, den die Bilder des Todes im öffentlichen Raum brauchen. Erst
die Ort- und Grundlosigkeit der Tapetenmuster und der architektonische
Bezug zur Fassade läßt die Bilder als das Erscheinen, was sie
als Bilder des stellvertretenden Todes sind. Sie schwanken zwischen Auflösung
und Erlösung wie der heimatlos fliegende Holländer, der immer
neue Häfen ansteuert. Es ist von beinahe programmatischer Ironie,
das ein Teil der Plakate Odins bereits gestohlen waren und nach einigen
Tagen wieder auftauchten. Wolfram Odin hat mit seinem jenseits-Projekt
ein Gegenmodell zur Vorstellung vom Stellvertretertod im 20. Jahrhundert
geschaffen. Es war ein architektonischer Versuch der letzten 100
Jahre, über Fassadenlosigkeit zur Unsterblichkeit zu gelangen; Ewigkeit
sollte Unzeitlichkeit und dauernde Gegenwart heißen. Auch dies war
eine Idee Wittgensteins. Ihr Resultat war architektonisch und politisch
jedoch nicht Alterslosigkeit, sondern die Alterungsunfähigkeit.
Ihr Appell lag nicht darin, ein Fazit zu ziehen, sondern Schluß mit
allem zugunsten einer namenlosen Gegenwart zu machen. Wo es aber keine
Stellvertreter und Fassaden gibt, da ereilt einen nur noch plötzlich
der eigene Tod. Und wie reagiert der Fußgänger in der Auguststraße,
daß sich Odin wieder für die Fassade entscheidet? Er läßt
den anderen sterben und spaziert mit seinem Fazit weiter.
Fabian Steinhauer
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